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Valeria JanaundAugust

Der Tag, an dem ich ein Piano traf

12. Oktober 2006
By Kosmonaut
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Wachwerden, gähnen, strecken. In einer grossangelegten Sammelaktion sind über nacht alle Regenwolken eingesammelt worden und die Sonne schwingt wieder das Zepter – ähm, d.h. natürlich den frischgedruckten demokratischen Stimmzettel, der klar und deutlich sagt: heute heiter und sonnig. Der Wecker zeigt unbeirrt 7.25 Uhr obwohl es eigentlich erst 6.55 Uhr ist, wie wir etwas später am Getränkeautomaten erfahren, als wir uns einen warmen Milchkaffee ziehen. Wir haben also Zeit. Zeit für einen Morgenspaziergang. Seit zwei Tagen erst wohnen wir auf dem Toyonaka-Campus der Uni Osaka. Ein Unibus pendelt aller 20 min zwischen Toyonaka und Suita, der erste fährt um 8 Uhr und der letzte gegen 19 Uhr. Abends um 7 ist es bereits dunkel, Osaka liegt eben etwa auf der Höhe von TelAviv. Doch der Campus ist nicht verlassen. Vor und in den Eingängen der verschiedenen Gebäude versammeln sich kleine Gruppen von Studenten, um zu trainieren: Hiphop, Breakdance, klassischen Chorgesang, Acapella. In der Gegend um die grosse Mensa jazzen die Blechbläser: zwei, vier, eher 6 verschiedene Bands und ein paar Solisten pusten gegen die stille Nacht. Am Morgen ist wieder alles leer und nur die Vögel schwatzen. Es ist so herrlich grün und die Luft duftet frisch nach Osmanthus. Es heisst, dieses Ölbaumgewächs mit seinen kleinen orangenen Blüten und betörendem Duft bringt einem das Lächeln wieder. Wahr oder auch nicht: in seinem Heimatland China soll es daher fast vollständig der Kulturrevolution zum Opfer gefallen sein.
Irgendwo auf dem Campus gibt es ein kleines Teehaus. Wir vermuten es in einem Wäldchen, stossen aber nur auf ein Gebäude mit grossen Fenstern und weissgedeckten Tischen, sicherlich finden hier Empfänge statt. Ein schmaler Trampelpfad geht am Haus vorbei und verschwindet im Dickicht. Wir klettern über ein paar verrottete Holzstufen und kommen seitlich des grossen Mensagebäudes wieder ins Freie. Unser Blick fällt auf einen überdachten Bereich: ein verwitterter Tisch mit ein paar Stühlen, ein oller Holzschrank, verrostete Schilder an den Wänden. Hier und da stehen leere Getränkeflaschen, Papier liegt herum. Das Bild verwandelt sich jedoch mit dem zweiten Blick: auf und in dem Schrank sind etliche Instrumentenkoffer verstaut, ein Gitarrenkoffer lehnt in der Ecke und das herumliegende Papier ist mit Noten beschrieben. Hier wurde abends Musik gemacht. Und auf einmal stand es da und wartete im dunklen Anzug, etwas asthmatisch zwar, aber mit aufgeklappten Deckel grüssend – Mister Piano. Der Wecker hatte heute früh auf 7.25 Uhr statt 6.55 Uhr beharrt und wir hatten Zeit. Zeit für einen Morgenspaziergang und Zeit für eine erste Bekanntschaft mit Mister Piano. Heute habe ich Geburtstag.

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